KIUrious

Eine Ökonomin an der Spitze: Julija Swyrydenko und die Neuordnung der ukrainischen Regierung

Mit Julija Swyrydenko steht seit Juli 2025 erstmals eine Ökonomin an der Spitze der ukrainischen Regierung. Welche Rolle kommt dem Amt der Premierministerin zu – und wie ist der von Präsident Selenskyj vollzogene Personalwechsel einzuordnen? Politikwissenschaftler Michael Dobbins spricht über die Hintergründe.


 

11111

Seit Juli 2025 Premierministerin: Julija Swyrydenko gilt als durchsetzungsstark und hat in den vergangenen Monaten eine zentrale Rolle bei der Neuausrichtung der Wirtschaftsbeziehungen zu den USA gespielt (IMAGO/Anadolu Agency).


 

Seit Mitte Juli ist die bisherige Wirtschaftsministerin Yuliya Swyrydenko neue Premierministerin der Ukraine. Was sollte man über Swyrydenko wissen?

Julija Swyrydenko ist eine ausgewiesene Wirtschafts- und Handelsexpertin, insbesondere im Bereich der Antikartell- und Anti-Monopolitik. Das ist gut, denn gerade die Monopolpolitik mächtiger Industrieoligarchen hat das Wirtschaftswachstum der Ukraine über viele Jahre hinweg gebremst.

Darüber hinaus hat sie als Vertraute des Chefs des Präsidialbüros Andrij Jermak in internationalen Verhandlungen in den vergangenen Monaten bereits ihre Durchsetzungsfähigkeit bewiesen: Swyrydenko hat eine entscheidende Rolle im Mineralienabkommen mit den USA gespielt und war maßgeblich an den Gesprächen zur Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen beteiligt. Sie ist außerdem die erste Premierministerin der Ukraine, deren politisches System bisher eher als „Männerdomäne“ galt.

International ist vor allem Präsident Selenskyj sichtbar. Was für Aufgaben hat die Premierministerin im Vergleich zum Präsidenten?

In der Ukraine stehen zwei Personen an der Spitze des Staates: Präsident*in und Premierminister*in. Die ukrainische Verfassung sieht eine relativ klare Kompetenzverteilung zwischen diesen beiden Ämtern vor. Als Premierministerin leitet Swyrydenko das Ministerkabinett und die Exekutive, also die Ministerien und die zentralen Regierungsbehörden. Außerdem schlägt sie - mit Ausnahme von Außen- und Verteidigungsressort - alle Ministerämter vor. Daneben ist Swyrydenko in ihrem Amt vor allem für das politische Tagesgeschäft verantwortlich. Sie sorgt also dafür, dass das, was das Parlament beschließt (zum Beispiel ein neues Gesetz oder eine neue Reform), in die Praxis umgesetzt wird – also durch Ministerien, Behörden, Programme. Selenskyj hingegen ist als Präsident Staatsoberhaupt Garant der Verfassung, der staatlichen Souveränität und territorialen Unversehrtheit der Ukraine. Generell zeigt die ukrainische Geschichte aber, dass Präsidenten wie Kutschma und Janukowytsch versucht haben, ihre Macht gegenüber dem Premierposten und formal unabhängigen Behörden auszuweiten. Und auch Selenskyj stand zuletzt in der Kritik, als er die Unabhängigkeit der Antikorruptionsorgane einzuschränken versuchte.

„Swyrydenko ist nicht weniger wichtig als Präsident Selenskyj.“

Wie sieht die Zusammenarbeit beider Ämter in Kriegszeiten aus?

In Zeiten eines brutalen Angriffskrieges kommt dem Präsidenten als Oberbefehlshaber und Leiter der nationalen Sicherheitsorgane natürlich eine enorme Bedeutung zu.
Das politische Tagesgeschäft und die Reformpolitik in der Ukraine sind aber trotzdem nicht zum Erliegen gekommen – im Gegenteil: die Ukraine muss ihre Demokratie- und innenpolitische Reformfähigkeit weiterhin beweisen, um internationale militärische und finanzielle Unterstützung sicherzustellen und den EU-Beitrittsprozess zu beschleunigen. Gerade das ist das Faszinierende: Die Ukraine kämpft nicht nur um ihre territoriale Unversehrtheit und Existenz als Staat, sondern setzt demokratische, wirtschaftliche und territoriale Reformen um. Hinzu kommen praktische Modernisierungsvorhaben in Bereichen wie Bildung, Energie, Landwirtschaft, Gesundheit, Digitalisierung und Verwaltung. Als Leiterin des Ministerkabinetts trägt Swyrydenko dafür die Verantwortung und ist somit nicht weniger wichtig als Präsident Selenskyj.

„Swyrydenko ist die richtige Person, um die Wogen zwischen Trump und der ukrainischen Führung zu glätten.“

Der Wechsel von Denys Shmyhal ins Verteidigungsministerium und die Ernennung von Julija Swyrydenko zur Premierministerin kam für viele überraschend. Gibt es eine Erklärung für diese Umstrukturierung?

Aus strategischer Sicht ist Swyrydenko wahrscheinlich eine gute Wahl. Einerseits ist sie Selenskyj gegenüber sehr loyal, der innenpolitisch etwas unter Druck geraten ist – nicht zuletzt weil sich die ukrainische Politik zunehmend auf seine Person zuspitzt. Eine neue, kompetent wirkende politische Führungsperson kann dem womöglich entgegenwirken und ein Stück weit die politische Aufmerksamkeit von Selenskyj weglenken. Man könnte es vielleicht so formulieren: Ihre Ernennung symbolisiert sowohl einen politischen Erneuerungsprozess als auch Kontinuität und Loyalität.

Andererseits hat Swyrydenko eindrücklich gezeigt, dass sie mit Trump und seinem Kabinett gut umgehen kann. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Andrij Jermak ein eher angespanntes Verhältnis zu Washington hat. Swyrydenko hingegen konnte einen für beide Seiten vorteilhaften Wiederaufbau- und Investitionsfonds (das sogenannte Mineralienabkommen) mit dem US-Regierungskabinett aushandeln. Aus meiner Sicht ist Swyrydenko also die richtige Person, um die Wogen zwischen Trump und der ukrainischen Führung glätten.
Ein Blick in die Transformationsforschung generell zeigt im Übrigen: Gerade politische Fluktuationen und häufige Regierungswechsel haben in postkommunistischen Staaten oft bessere Voraussetzungen für Demokratie und Wirtschaftswachstum geschaffen als eine langjährige personelle Stabilität. Etwas überspitzt formuliert sind „italienische Verhältnisse“ - also häufige Politikwechsel - günstiger für die Demokratisierung als eine über Jahre verfestigte Führungsmacht, wie wir sie etwa in Russland und Belarus sehen.

"Ich würde diese Vorgänge nicht als democratic backsliding bewerten, sondern als taktischen Schachzug, um politische Erneuerung zu signalisieren.“

Kritische Stimmen sahen in der Umstrukturierung der Regierung unter geltendem Kriegsrecht Anzeichen eines demokratischen Rückschritts. Hat sich Präsident Selenskyj hier in einer verfassungsrechtlichen Grauzone bewegt?

Kritisiert wird vor allem, dass die Regierung nun noch mehr als früher aus „Selenskyj-Loyalisten“ besteht. Verfassungsrechtlich gilt, dass Regierungsmitglieder zu Kriegszeiten nicht entlassen werden dürfen. Wir bewegen uns hier jedoch in einer etwas grauen Zone, da hier ein Umbau des Kabinetts stattgefunden hat. Auf Initiative von Präsident Selenskyj wurden die meisten Minister*innen formal von ihren jeweiligen Posten entlassen, haben jedoch neue Ämter innerhalb desselben Kabinetts übernommen. Die entscheidende juristische Frage ist im Kern also, ob die formale Entlassung trotz Wiederernennung eine Verletzung der Verfassung darstellt.

Teilweise wurden auch Ministerien zusammengelegt, wodurch das Kabinett insgesamt verkleinert wurde. Vereinzelt kam es deshalb zu Entlassungen.

Ein juristisch umstrittenerer Fall ist die Abschaffung des Ministeriums für nationale Einheit, das bisher Oleksij Tschernyshow geleitet hat. Es sollte dafür sorgen, dass im Ausland lebende Ukrainer*innen ins Land zurückkehren, allerdings war schon bei der Gründung des Ministeriums nicht klar, welche Aufgaben es übernehmen wird. Tschernyshow, der in den letzten Jahren recht erfolgreiche Dezentralisierungs- und Wirtschaftsreformen mitverantwortet hat, sieht sich derzeit mit massiven Korruptionsvorwürfen konfrontiert.  Aufgrund der Vorwürfe und der unklaren Zuständigkeiten des von ihm geleiteten Ministeriums glaube ich nicht, dass dieses Manöver längerfristige Konsequenzen haben wird.
Korruptionsbekämpfung und gute Regierungsführung sind der aktiven ukrainischen Zivilgesellschaft zurzeit besonders wichtig. Das haben wir auch in den letzten Wochen auf den Straßen Kyjiws eindrücklich gesehen. Ich würde also die Vorgänge nicht unbedingt als Symptom oder Zeichen von „democratic backsliding“ sehen und die Auswirkungen des Kriegsrechts auf die Demokratie nicht überbewerten. Vielmehr handelt es sich um einen taktischen Schachzug, um politische Erneuerung zu signalisieren und Verwaltungsprozesse effizienter zu gestalten.

Experte:
Dr. Michael Dobbins ist Politikwissenschaftler und war nach seiner Tätigkeit als Ergänzungsprofessor für Policy-Analyse an der Universität Konstanz von Mai bis Juli 2025 Fellow im Kompetenznetzwerk Interdisziplinäre Ukrainestudien (KIU). Ab Oktober 2025 verwaltet er die Professur für Policy-Analyse und empirische Verwaltungswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover. Er forscht zu Bildungspolitik, postkommunistischen Transformationsprozessen und insbesondere zur Rolle organisierter Interessen in den politischen Systemen Mittel- und Osteuropas. Er ist Herausgeber des Sammelbands „Das politische System der Ukraine“ (Springer VS), das im August 2025 erschienen ist.

MD_Copyright_Heide_Fest

Das Interview führte Belinda Nüssel, Referentin für Wissenschaftskommunikation im KIU.

Competence Network Interdisciplinary Ukrainian Studies Frankfurt (Oder) - Berlin

Besuchsadresse:

Große Scharrnstraße 23 a